Attentat auf Kaiser Wilhelm I.
Printed in
Diplomatic Documents of Switzerland, vol. 3, doc. 132
volume linkBern 1986
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Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
▼ ▶ Archival classification | CH-BAR#E2300#1000/716#86* | |
Old classification | CH-BAR E 2300(-)1000/716 47 | |
Dossier title | Berlin, Politische Berichte und Briefe, Militärberichte, Band 3 (1878–1880) |
dodis.ch/42111
In Bestätigung meines gestrigen, chiffrirten Telegramms2 mache ich Ihnen die Mittheilung, dass mir Herr Reichskanzleramtspräsident Hofmann, welchen ich im Laufe des Nachmittags besuchte, die bestimmte Erklärung abgegeben hat, der Bundesrath werde heute einstimmig dem Antrage des preussischen Staatsministeriums auf Auflösung des Reichstages beistimmen und werde dann die Auflösung morgen Mittwoch, durch das Erscheinen des bundesräthlichen Beschlusses im Reichsanzeiger, zum fait accompli werden. Sämtliche Bundesrathsbevollmächtigte seien im Besitze zustimmender Instruktionen, nur ein Staat sei nicht einverstanden, indessen werde der bezügliche Vertreter nicht gegen den preussischen Vorschlag stimmen, sondern sich einfach der Abstimmung enthalten. Da in den letzten Tagen sonst gut informirte Persönlichkeiten wissen wollten, man beabsichtige, die Neuwahlen schon in ca. 3 Wochen anzuordnen, bat ich Herrn Hofmann auch hierüber um Auskunft und erhielt dann von ihm zur Antwort, vor Ende Juli oder Anfang August könne hievon nicht die Rede sein; man brauche vorerst 3 Wochen zur Ausfertigung der Wahllisten und dann müssen dieselben 4 Wochen aufgelegt werden, unter 7 Wochen dürfe man also nicht gehen. Von den Neuwahlen scheint sich die Regierung, nach den Äusserungen des H. Hofmann zu schliessen, vor Allem eine wesentliche Verminderung der Zahl der Vertreter der Sozialdemokraten zu versprechen; ja man giebt sich sogar, wenn auch noch sehr schüchtern, der Hoffnung hin, es dürfte unter dem Eindruck der beiden ruchlosen Attentate gelingen, das sozialdemokratische Element ganz aus dem Reichstage auszurotten. Im Fernern prognostizirt man dahin, dass die nationalliberale Fraktion jedenfalls eine ziemlich grosse Anzahl ihrer Vertreter verlieren werde und dass sich die Wähler mehr der conservativen Richtung zuwenden dürften; jedenfalls erwartet man mit Bestimmtheit von dem neuen Reichstage, dass derselbe mit grosser Mehrheit das in Aussicht genommene Ausnahmegesetz gegen die Sozialdemokratie annehmen werde. Vor Mitte oder Ende September wird aber diese neue Vorlage schwerlich zur Behandlung kommen können.
Die nationalliberale Fraktion ist natürlich im Stillen über das Auflösungs-Projekt sehr verstimmt; sie raisonnirt, wie Sie aus den Zeitungen ersehen haben werden, dahin, man hätte vorerst den gegenwärtigen Reichstag ausserordentlich einberufen und mit ihm den wiederholten Versuch machen sollen, das Ausnahmegesetz durchzubringen, denn es unterliege keinem Zweifel, dass jetzt, bei der veränderten Sachlage, diese Fraktion mit grosser Mehrheit der Regierung zugestimmt hätte und, wäre diese Erwartung gegen alle Vermuthung getäuscht worden, so hätte man immer noch zu dem letzten Mittel, zu der Auflösung, greifen können; man beabsichtige aber etwas anderes, man wolle à tout prix mit den Nationalliberalen brechen und der Auflösungsbeschluss sei ganz einfach der Schluss der unwürdigen Comödie, welche man mit Bennigsen und der ganzen Fraktion in der neuern Zeit gespielt habe. Sie, die nationalliberale Fraktion, scheint aber den Neuwahlen mit grossem Selbstvertrauen entgegenzugehen; sie rüstet sich bereits auf den Wahlkampf und hat auf den 16. d. M. eine Fraktionsversammlung nach Berlin einberufen. Wie die Fortschrittsparthei über die Situation denkt, weiss ich zur Zeit noch nicht; auch diese Fraktion wird aber sofort Stellung nehmen. Mir scheint dieselbe insofern weniger exponirt zu sein, als ihre Wähler fester organisât sind, als diejenigen der Nationalliberalen, welche nunmehr ihre Stellung als Regierungsparthei verloren haben.
Von sehr grossem Einfluss wird das Verhalten der Zentrumsparthei für die nächste Zukunft sein und es steht ausser Frage, dass die Regierung, pcto. Annäherung an dieselbe, bis zu den äussersten Grenzen des Erlaubten gehen wird. Als ebenso sicher betrachte ich es aber dennoch, dass der Fürst Bismark seinen bisherigen prinzipiellen Standpunkt in der Culturkampffrage auch in der neu geschaffenen Situation nicht preisgeben wird.
Über die Maassregeln, welche speziell die preussische Regierung bis zur Ertheilung ausserordentlicher Vollmachten durch den Reichstag zur Bekämpfung der sozialdemokratischen Agitation zur Anwendung bringen dürfte und schon getroffen hat, erwähne ich Folgendes:
Die Idee der Verhängung des Belagerungszustandes ist ernstlich erwogen, schliesslich aber wieder aufgegeben worden, weil dieselbe für ganz Berlin einen unerträglichen Zustand geschaffen hätte. Auch ist von der Konsignation der Berliner-Garnison, von welcher viel gesprochen wurde, Umgang genommen worden; dagegen weiss ich aus guter Quelle, dass zur Zeit gar kein Urlaub, und wäre er auch nur für 24 Stunden, ertheilt wird, sowie dass die Wachtmannschaft seit ca. 4 Tagen mit geladenem Gewehr auszieht und mit Munition versehen ist. Von der Garnison in Potsdam heisst es ganz bestimmt, dass sie in die Kasernen konsignirt sei.
Im Übrigen ist die Staatsregierung sicherm Vernehmen nach gewillt, von den ändern Befugnissen Gebrauch zu machen, welche ihr das Gesetz vom 4. Juni 1851 über den Belagerungszustand in solchen Zeiten gewährt, in welchen sie auch zur Erklärung des Belagerungszustandes befugt ist. Nach § 16 dieses Gesetzes kann nämlich die Regierung, auch wenn der Belagerungszustand nicht erklärt ist, bei dringender Gefahr für die öffentliche Sicherheit die Bestimmungen der preussischen Verfassungsurkunde über die persönliche Freiheit, über Haussuchung und Beschlagnahme, über freie Presse und das freie Vereins- und Versammlungsrecht und über die Befugniss der Militärmacht zum unmittelbaren Einschreiten gegen Aufrührerische zeitweise bis zum nächsten Zusammentritt des Landtages ausser Kraft setzen. Wie und wie weit die Regierung diese Befugnisse ausnützen will, ob sie sämmtliche oben hervorgehobenen Bestimmungen der Verfassung suspendiren, ob sie hierbei nur für die Hauptstadt und einzelne andere preussische Städte oder für ganz Preussen die Suspension aussprechen wird, hängt von dem weitern Verlauf der auf Anlass des Nobiling’schen Attentats und der zahlreichen damit zusammenhängenden Thatsachen schwebenden gerichtlichen Untersuchungen ab.
Über den Fortgang der Untersuchung betreffend Nobiling erfährt man sehr wenig, immerhin aber doch noch zu viel, d. h. viel mehr, als es im Interesse der Untersuchung liegt. Der Zustand Nobilings ist, wie ich gestern von sehr gut unterrichteter Seite her erfahren, derart, dass er ohne Verzug wieder vernommen werden kann. Der behandelnde Artzt improvisirte vorgestern einen kleinen Vernehmungsversuch in folgender Weise. Frage: Wie haben Sie sich ihre Verwundung am Kopfe beigebracht? Antwort: Mit einem Revolver. Frage: Hatten Sie keine ändern Waffen? Antwort: Ja, eine Jagdflinte. Frage: Was haben Sie mit der Flinte gemacht? Antwort: Ich habe damit auf den Kaiser geschossen. Frage: Hätten Sie nicht, da es Ihnen wieder besser geht, Freude daran, einige Freunde von Ihnen zu sehen? Antwort: Ja. Frage: Wollen Sie mir dieselben nennen, damit ich sie herberufen kann? Keine Antwort. Frage: Sagen Sie mir doch, wie dieselben heissen, sonst kann ich ja Ihrem Wunsche nicht entsprechen. Wiederum keine Antwort und damit war das nicht gerade sehr klug in Szene gesetzte Privat-Verhör beendigt. Die Untersuchungsbehörde soll dagegen in Sachen sehr sorgfältig zu Werke gehen und auf indirektem Wege mehrern Complicen auf die Spur gekommen sein. Die Haussuchungen und Verhaftungen mehren sich von Tag zu Tag und in ganz Deutschland finden zahlreiche Sistirungen und, bei höchst summarischen Verfahren, Verurtheilungen wegen Majestätsbeleidigung bei Anlass des Bekanntwerdens des zweiten Attentates statt. In Berlin erfolgten letzten Sonnabend 8 Erledigungen solcher Fälle, wobei das Urtheil bis auf 5 Jahre Gefängniss lautete. Die Bevölkerung leistet der offenbar der Situation nicht gewachsenen Polizei durchwegs vorzügliche Dienste; sie macht selbst Polizei und die kleinste missbeliebige Äusserung wird sofort zuständigen Orts hinterbracht. Alle öffentlich ausgekündeten oder verkappt angeordneten Sozialisten-Versammlungen werden in ganz Deutschland verboten und die Führer der Parthei mit Hausdurchsuchungen bedacht; ebenso wird die sozialistische Presse streng überwacht; überhaupt entwickelt man jetzt nach allen Richtungen eine sehr eingehende Thätigkeit behufs der leider nur zu lange tollerirten Agitation. Dass diese Agitation in verschiedenen Kreisen der Bevölkerung schon tief Wurzeln gefasst hat, muss heute allseitig anerkannt werden; selbst in die obern Klassen der Gymnasien ist das Gift eingedrungen, so dass es im günstigsten Falle Jahrzehnte dauern wird, bis der ausgestreute Saame durch Gewalt und andere Mittel wieder ausgerottet sein wird. Jedenfalls wird man in dem gesunden, praktischen Sinne des noch nicht infizirten Theiles des Volkes das wirksamste Mittel zur Bekämpfung der gemeinschädlichen Theorien der Sozialdemokratie finden, insofern man demselben in wirthschaftlichen Fragen auch nur halbwegs entgegenkömmt; die Katheder-Sozialisten, welche man bisher grossgezogen und gehätschelt hat, müssen dagegen gründlich aufgegeben werden; von dieser Seite her kömmt kein Heil, sie haben den Knoten nur noch mehr verwickelt und werden mit dem nunmehr unausweichlichen Zerschneiden desselben ihre künstlich gefristete Existenz, in Deutschland wenigstens, von heute auf morgen sicherlich gänzlich einbüssen. Vermuthlich wird bei allen diesen Schutzmitteln gegen die Sozialdemokratie auch das Ausland zur Sprache kommen; heisst es ja sogar, man beabsichtige die Frage international zu behandeln und hiefür den bevorstehenden Kongress zu benützen. Wäre auch Russland hiezu zweifelsohne sehr geneigt, so betrachte ich doch diese letztere Combination als ausgeschlossen, womit aber nicht gesagt sein soll, dass nicht etwa nebenbei bezügliche vertrauliche Pourparlers zwischen den leitenden Ministern stattfinden dürften. Die Schweiz ist bis jetzt in den vielfachen Kundgebungen der Presse in keiner Weise berührt worden; doch wird der Feldzug gegen die Sozialdemokratie für die Zukunft auch für uns, mit unserer Pressfreiheit, dem Versammlungs- und dem Asyl-Recht, seine Folgen haben und gelegentlich heikle Fragen Ihrem Entscheide aufdrängen.
Das Befinden des Kaisers ist fortwährend sehr befriedigend. Der Heilungsprozess geht ganz normal und rasch von Statten, so dass der Patient gestern z. B. etwa 8 Stunden ausser dem Bette zubringen konnte, was die Ärtzte in ganz besonderm Maasse beruhigt, währenddem sie bis jetzt befürchteten, das fortdauernde Liegen und die hiemit verbundene Störung der Blutzirkulation könnte eine Affektion der Lungen nach sich ziehen. Zur Zeit kömmt nur noch die Anschwellung am rechten Handgelenk und die sog. Einkapslung des «Stehpostens», welcher dort sitzt, in Frage. Es soll aber auch hiemit gut gehen und hofft man dessgleichen, der Kaiser werde recht bald wieder den traditionellen Hohenzollern-Appetit entwickeln. Ob er wirklich beabsichtigen soll, Ende dieser Woche nach Babelsberg überzusiedeln, habe ich noch nicht bestimmt ermitteln können.
Der Rücktritt Falks ist wohl «aufgeschoben» aber nicht «aufgehoben». Ich habe hierüber gestern von durchaus genau unterrichteter Seite Folgendes vernommen: Falk antworte dem Kaiser auf dessen äusserst freundlich gehaltenes Handschreiben, er wünschte sehr bleiben zu können, allein es bestehe zwischen Sr Majestät und ihm betreffend verschiedene Fragen eine so grosse Meinungsdifferenz, dass er nicht einsehe, wie es ihm möglich sein werde, auf seinem Posten zu verharren. Hierauf erneuerte der Kaiser seine Einladung an Falk, er möge bleiben, mit dem Beifügen, man könne ja dann gelegentlich sehen, ob sie sich nicht dennoch verständigen werden. Bald folgte dann das zweite Attentat und nun hat Falk in der That das Abschiedsgesuch einstweilen zurückgezogen. Er sagt aber selbst mit der grössten Offenheit, sein Rücktritt sei nur eine Frage der Zeit, denn die Motive zu demselben werden bestehen bleiben.
Übermorgen beginnt also der Kongress. Ich werde Ihnen hierüber so oft und so viel berichten, als es mir möglich sein wird. Heute Abend schon sind einige Bevollmächtigter hier erwartet und der Telegraph hat bereits die Abreise Aller, selbst auch von Gortchakoff, über welchen, wie ich früher berichtet, noch vor wenigen Wochen allgemein das Todesurtheil gesprochen wurde, gemeldet.