Thematische Zuordung Serie 1848–1945:
III. SICHERHEITSPOLITIK
1. Internationale Lage und Kriegsgefahr
1.1. Die Lage in West- und Mitteleuropa
Pubblicato in
Documenti Diplomatici Svizzeri, vol. 3, doc. 22
volume linkBern 1986
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Archivio | Archivio federale svizzero, Berna | |
▼ ▶ Segnatura | CH-BAR#E2300#1000/716#84* | |
Vecchia segnatura | CH-BAR E 2300(-)1000/716 46 | |
Titolo dossier | Berlin, Politische Berichte und Briefe, Militärberichte, Band 1 (1867–1873) |
dodis.ch/42001
Der schweizerische Gesandte in Berlin, B. Hammer, an den Bundespräsidenten und Vorsteher des Politischen Departements, P. Cérésole1
Bevor ich meinen Urlaub antrete, will ich in wenigen Worten noch die auswärtigen Beziehungen Deutschlands besprechen.
Die traditionell guten Beziehungen Preussens zu Russland haben sich in neuster Zeit noch dahin verbessert und befestigt, dass auch die Gesinnungen der höhern Gesellschaft in Russland dem neuen Zustand der Dinge in Deutschland geneigter geworden seien. Der Besuch des deutschen Kaisers in Petersburg habe nicht bloss der unzweifelhaften Intimität der beiden Herrscher einen demonstrativen Ausdruk gegeben, sondern wirklich auch in den sonst kalten oder gar feindseligen russischen Gesellschaftskreisen einen günstigen Eindruk gemacht. Ich hörte auch, selbst für französische Beobachter sei der Eindruk ein so tiefgehender gewesen, dass er die Illusion einer russisch-französischen Allianz für den nächsten Krieg ziemlich zerstört habe.
Über die guten Beziehungen zu Ostreich giebt der ausgesucht verbindliche Besuch der deutschen Kaiserin in Wien den zuverlässigsten Aufschluss. Unter dem Einfluss Preussens ist auch das seit dem Krimkrieg gespannte Verhältniss Russlands zu Ostreich ein freundlicheres geworden und bestätigt sich durch die gegenseitigen Besuche der Herrscher von Ostreich und Russland die stattgefundene Wiederannäherung, welche als ein Erfolg der unablässigen Bemühungen Preussens zu betrachten ist, und welcher für die praktische Politik etwa folgende Bedeutung hat:
Russland lässt die eigentliche orientalische Frage einstweilen ruhen und erhält dafür ganz freie Hand nach Centralasien. Hinsichtlich der deutsch-französischen Frage acceptiren Russland und Ostreich den durch den letzten Krieg geschaffenen Zustand und versagen Frankreich die Aussicht auf Allianzen zu einem Revanchekrieg. Russland wendet sich noch für eine geraume Zukunft von allen grossen Unternehmungen nach Aussen ab, und widmet sich vorzugsweise noch immer seiner «Sammlung» – seiner innern Entwikelung.
Englands Verhältniss zu allen europäischen Staaten ist gegenwärtig die vollständige Isolirung. Deutscher Seits scheint man nach dieser Seite hin weder Hoffnungen noch Besorgnisse zu hegen; auch gegenseitige Bestrebungen sind zwischen beiden Ländern kaum bemerkbar, doch kann die Ernennung des Grafen Münster zum deutschen Botschafter in London als ein Versuch bezeichnet werden, den Deutschland macht, in den massgebenden gesellschaftlichen Schichten in England mehr Einfluss zu gewinnen.
Verschiedene Erscheinungen lassen darauf schliessen, dass die Haltung Italiens mit den Auffassungen und Wünschen deutscher Politik nicht vollständig in Einklang steht. Man will Schwankungen und Gegenströmungen wahrnehmen, welche die Zuverlässigkeit seines politischen Verhaltens zweifelhaft erscheinen lassen. Italien ist von den europäischen Staaten, etwa Holland ausgenommen, jedenfalls derjenige, in welchem der französische Einfluss sich unter Umständen noch am meisten zur Geltung bringen könnte, und der die deutsche Diplomatie in hervorragender Weise in Anspruch nimmt. Abgesehen vom Verhältniss zu Frankreich bildet vielleicht die beidseitige Stellung zur künftigen Pabstwahl einen Differenzpunkt.
Das Verhältniss zu Frankreich kennzeichnet sich am einfachsten dadurch, dass hier und dort die am meisten erörterte Frage die ist, wie lange die Pause sein wird, die uns vom nächsten Kriege trennt. Als Faktoren dieser Wahrscheinlichkeitsrechnung treten auf: Verzögernd, die Rüksichten auf nationalökonomische, politische und militärische Vorbereitung (Wiederherstellung der Staatsfinanzen, definitive Constituirung des Landes, nothwendiger Zeitraum zum Neu- und Umbau der Landesfestungen [und zur Entwikelung der durch die neue Militärorganisation geschaffenen Verhältnisse, etc. Beschleunigend: das Ungestüm der Revanchegelüste und die Gefahr der fortschreitenden Germanisirung von Elsass-Lothringen; ohne Zweifel darf nach französischer Ansicht die Mehrheit der Generation, welche die Annexion miterlebte, beim Beginn des zweiten Krieges nicht ausgestorben sein. Ich bemerkte auch schon, dass man französischer Seits im Hinblik auf den Revanchekrieg die Zeit der Eröffnung des Gotthardtunnels erörterte. Wahrhaft verhängnisvoll kann hier die clerikale Agitation werden. Wenn man nun als Rechnungsergebniss der bekannten Factoren die jetzige Friedenspause auf höchstens 8 bis 10 Jahre veranschlagen hört, so ist auch hiemit die Möglichkeit eines neuen Krieges nach viel kürzerer Zeit schon gegeben, falls für Frankreich besonders günstige oder zwingende Constellationen schon früher eintreten sollten. Es ergiebt sich hieraus für uns die sehr ernste Erwägung, welch’ verhältnissmässig kurze, fast zu kurze Zeit uns zur militärischen Vorbereitung bleibt, und wie dringlich es erscheint, unsere politische Neugestaltung zum baldigen und sichern Abschluss zu bringen.
Man ist hier sehr geneigt, in den neuesten Lebensäusserungen Frankreichs vorzugsweise nicht Zeichen der Wiedergeburt, sondern Zeichen des Verfalls wahrzunehmen und sieht desswegen der Zukunft mit grosser Sicherheit entgegen, was nicht ausschliesst, dass die massgebenden militärischen Kreise hier der Entwikelung der militärischen Dinge in Frankreich mit grosser Objektivität folgen. Sie ersehen auch, aus den kolossalen Vorbereitungen, die sich Deutschland in Aussicht des zweiten Krieges auferlegt, wie ernst und drohend es die Zukunft auffasst, und darf man ganz bestimmt annehmen, dass dieser II. Krieg noch viel gewaltiger, um sich greifender, entscheidender und folgenreicher sein wird als der erste.
Über die Beziehungen des deutschen Reiches zur Schweiz wüsste ich etwas neues und anderes, als was deren herzlichen Charakter bestätigen würde, nicht beizufügen. Doch bemerke ich, dass neuste Zeitungen über die Einstellung der Deutsch-Schweizerischen Verhandlungen, den Niederlassungsvertrag betreffend, etwas gereizte Auslassungen enthalten, was mit Rüksicht auf die hier zu überwindenden Schwierigkeiten gar nicht schaden kann.
Den Zwischenfall mit der «Vigilante» kam der Kaiserlichen Regierung ganz unerwartet und beschäftigt dermalen etwas das auswärtige Amt, so dass Herr von Balan den Antritt seines heute beginnen sollenden Urlaubs bis auf weiteres noch verschiebt.
Ich reise heute Abend oder morgen ab und werde die ersten Tage nach meiner Ankunft in der Schweiz die Ehre haben, Ihnen meine Aufwartung zu machen.
- 1
- Bericht: E 2300 Berlin 1.↩
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