Printed in
Diplomatic Documents of Switzerland, vol. 23, doc. 170
volume linkZürich/Locarno/Genève 2011
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Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
▼ ▶ Archival classification | CH-BAR#E2300-01#1973/156#52* | |
Old classification | CH-BAR E 2300-01(-)1973/156 7 | |
Dossier title | Ottawa (Berichte, Briefe) (1966–1966) | |
File reference archive | A.21.31 |
dodis.ch/31304 Der schweizerische Botschafter in Ottawa, H. W. Gasser, an den Vorsteher des Politischen Departements, W. Spühler1
Der Aufenthalt von a. Bundesrat2 Wahlen in Ottawa bot, wie ich andernorts bereits berichtet habe3, Gelegenheit zu Gesprächen mit Prime Minister Pearson, Aussenminister Martin und dessen Stellvertreter Unterstaatssekretär Cadieux, von denen eine kurze Zusammenfassung für Sie von Interesse sein könnte.
Prime Minister Pearson legte Wert auf die Betonung der kanadischen Präsenz in allen internationalen Gremien, insbesondere innerhalb der UNO; Kanada, als middle-size power, wünscht seine Rolle, zur Erhaltung des Friedens beizutragen, immer mehr zu verstärken. Es wird in allen peace-keeping operations auch weiterhin aktiv mitwirken. Im Commonwealth versucht es als Mediator in heiklen Situationen zu dienen, um diese «multiracial community» auf alle Fälle zusammenzuhalten. Überdies will die kanadische Regierung ihren Beitrag zur Entwicklungshilfe laufend weiterhin erhöhen.
A. Bundesrat Wahlen erwähnte gesprächsweise die Anregungen zur allfälligen Mitwirkung einer schweizerischen Blau-Helm-Truppe auf freiwilliger Basis, was vom kanadischen Prime Minister sehr beifällig aufgenommen wurde. Im übrigen ging diese Unterredung über die üblichen Höflichkeitsformen nicht hinaus.
Aussenminister Martin vertrat in sehr vehementer Weise die Notwendigkeit der Präsenz Rot-Chinas in der UNO. Es sei unmöglich, diesen Komplex länger zu ignorieren. Nach seiner Auffassung sei jetzt der Zeitpunkt gekommen, die Aufnahme der Volksrepublik zu ermöglichen; nachher sei es hiefür zu spät und die Folgen des weiteren Ausschlusses Pekings seien unübersehbar, aber zweifellos eine grosse Gefahr für die übrige Welt. Martin stellt sich immer noch eine Möglichkeit vor, die Theorie der «beiden China» in der UNO zu verwirklichen.
Vom kürzlichen Besuch des senegalesischen Präsidenten Senghor war Martin sichtlich tief beeindruckt. “One of the greatest spirits and most impressive personalities I have ever met.”
– Bei dieser Gelegenheit darf noch erwähnt werden, dass Präsident Senghor anlässlich der speziellen Verleihung der Ehrendoktorwürde an der Université Laval in Quebec über eine Stunde zur Verfügung gestellt wurde, um seine Theorie der «Francophonie comme Culture» zu entwickeln, während a. Bundesrat Wahlen seinen Doktorhut wenige Tage später im Rahmen der alljährlichen «Collation des grades» entgegennahm und sich in seiner Verdankungsadresse gemäss Usance auf kurze 10–15 Minuten und auf Allgemeinheiten zu beschränken hatte. –
Die Vorsprache bei Unterstaatssekretär Marcel Cadieux war bedeutend interessanter. Er äusserte seine Bedenken in Bezug auf die von Präsident Senghor aufgestellten Thesen der «Francité» und der «Communauté francophone»4. Obwohl jede Zusammenarbeit der Französischsprechenden auf kulturellem und sprachlichem Gebiet von Ottawa begrüsst und unterstützt werde, kämen Institutionalisierungen, welcher Art auch immer solche sein könnten, für Kanada keinesfalls in Frage. In diesem Sinne erhoffe er eine Koordination der Auffassungen mit der Schweiz und auch mit Belgien. Im übrigen hätte Minister Couve de Murville anlässlich seiner kürzlichen Besprechungen in Ottawa in diesen Fragen eine merkliche Zurückhaltung bekundet.
Cadieux stimmte auch a. Bundesrat Wahlens Bemerkung zu, dass diesen Bestrebungen der Geschmack einer Art von «sprachlichem Volkstum» innewohne, was Emotionen ähnlich den nationalsozialistischen auslösen könnte.
Auf die Beziehungen Ottawas zu Frankreich zu sprechen kommend, versuchte Cadieux das schwierige Verhältnis zu erklären, in welchem sich seine Regierung befinde; einerseits lege diese grössten Wert auf engere Beziehungen zu Frankreich auf dem bilateralen Sektor, was sich auch beiderseits sehr befriedigend entwickle, sowohl in Bezug auf die kulturelle, als auch die wirtschaftliche Zusammenarbeit. Anderseits aber bestünden grundlegende Meinungsverschiedenheiten auf der multilateralen Ebene, wo Kanada der Aussenpolitik des französischen Staatschefs5 nicht folgen könne und auch die französische Wirtschaftspolitik nicht als richtig betrachte, bzw. den allgemeinen französischen Tendenzen der Anti-Integration verständnislos und mit Bedenken gegenüberstehe. Besondere Sorge bereite ihm der Zerfallsprozess der nordatlantischen Gemeinschaft, der s. E. noch keineswegs abgeschlossen sei, ganz abgesehen von den technischen und finanziellen Problemen, welche die verschiedenen Dislokationen in Europa für Kanada stellen. Cadieux gibt sich auch Rechenschaft darüber, dass die nun in Gang gekommenen Rückzugsabsichten alliierter Truppenbestände aus Westdeutschland – denen Kanada sich nicht anschliesst – die Sowjetunion zum Ausspielen jeder Art von politischen Trümpfen ermutigen wird. So sucht die kanadische Regierung zu bremsen, wo es möglich ist, und hat sich deshalb eindeutig, wenn auch leider wohl vergeblich, für eine Beibehaltung des NATO-Rat-Sitzes in Paris eingesetzt.
Für die Schweiz und ihre Aussenpolitik hat Cadieux volles Verständnis.
- 1
- Politischer Bericht Nr. 13: E 2300-01(-) 1973/156 Bd. 7 (A.21.31).↩
- 2
- Zum Einsatz von alt Bundesräten für aussenpolitische Missionen vgl. DDS, Bd. 23, Dok. 167, dodis.ch/30917, Anm. 4.↩
- 3
- Schreiben von H. W. Gasser an die Abteilung für politische Angelegenheiten des Politischen Departements vom 17. Oktober 1966, E 2004(B) 1982/69 Bd. 10 (a.132.1).↩
- 4
- Vgl. dazu auch DDS, Bd. 23, Dok. 6, dodis.ch/31298.↩