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Diplomatic Documents of Switzerland, vol. 22, doc. 160
volume linkZürich/Locarno/Genève 2009
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Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
▼ ▶ Archival classification | CH-BAR#E2804#1971/2#596* | |
Old classification | CH-BAR E 2804(-)1971/2 106 | |
Dossier title | Integration 1963 (1963–1963) | |
File reference archive | 060.7 |
dodis.ch/30349 Der Chef des Integrationsbureaus, P. R. Jolles, an die schweizerischen Botschaften in den EWG-Hauptstädten, in den EFTA-Hauptstädten, in Moskau, in Washington, und an die schweizerische Mission bei der Europäischen Gemeinschaften in Brüssel1
In verhältnismässig kurzer Frist hat der nach dem am 28. Januar erfolgten Abbruch der England-Verhandlungen stärker zutage getretene Drang Österreichs zur EWG dazu geführt, dass in Brüssel der «Fall Österreich» auf die Tagesordnung gesetzt wurde und dass die EWG-Behörden diesbezüglich mit der Bereitstellung von Vorakten begonnen haben. Seit unserem Schreiben vom 7. Mai2 hat der EWG-Ministerrat am 31. Mai den ständigen Regierungsvertretern in Brüssel den Auftrag erteilt, gemeinsam mit der EWG-Kommission das österreichische Problem zu prüfen und bis Ende Juli Bericht zu erstatten. Ferner nahm der Ministerrat von der Erklärung der Kommission Kenntnis, dass diese mit der österreichischen Delegation in Verbindung stehe und beabsichtige, ihre Kontakte fortzuführen und die österreichischen Bedürfnisse näher abzuklären. Das Mandat ist somit ausserordentlich vorsichtig formuliert worden und nimmt weder den dadurch zu fassenden grundsätzlichen Beschluss über die Aufnahme von Verhandlungen mit Österreich vorweg, noch enthält es Hinweise auf die Richtung, in welcher eine Lösung gesucht werden sollte, (Couvede Murville soll an der betreffenden Ratssitzung erklärt haben, es gebe grundsätzlich drei Varianten: Assoziation in Form einer Zollunion, Freihandelszone oder nichtpräferenzieller bilateraler Handelsvertrag.) Die Sondierungsgespräche haben in Brüssel am 4. Juli begonnen und sollen dieser Tage abgeschlossen werden. Die Kommission sucht mit der österreichischen Vertretung in Brüssel sowie mit aus Wien beigezogenen Experten die wirtschaftlichen und politischen Probleme zu eruieren und das Ausmass der österreichischen Adaptationsbereitschaft bzw. der unabdingbaren Vorbehalte wirtschaftlicher und politischer Art abzuklären, um bis Ende Juli dem Ministerrat einen Bericht unterbreiten zu können, auf dessen Grundlage weitere Beschlüsse gefasst werden sollen. In diesen Gesprächen, die seitens der EWG von Herrn Rey und Herrn Seeliger geführt werden, soll darauf hingewiesen worden sein, dass kein festes Programm vorliegt und von der in Griechenland und neuerdings im türkischen Abkommen verankerten Assoziationskonzeption in dem Sinne abgewichen werden müsse, dass ein späterer Vollbeitritt Österreichs zum vornherein ausgeschlossen werde. Offenbar wird in dieser ersten Phase vorderhand ein Inventar der zu behandelnden Fragen aufgestellt, die dann im Herbst vertieft werden sollen. Eine grundsätzliche Entscheidung über die Möglichkeit von eigentlichen Verhandlungen und die anzustrebende Regelung dürfte kaum vor Ende des Jahres fallen.
Die Behandlung des Falles Österreich ist für uns aus drei Gründen von besonderer Bedeutung. Erstens, weil Rückwirkungen auf die österreichische Mitgliedschaft bei der EFTA entstehen könnten; zweitens, weil sich Rückschlüsse auf die Haltung, die die EWG gegenüber benachbarten Drittstaaten einzunehmen gedenkt, ergeben werden, und drittens, weil ein Präzedenzfall für das Ausmass der Berücksichtigung der neutralitätspolitischen Vorbehalte geschaffen werden könnte. Mit Bezug auf diesen dritten Punkt ist natürlich auch die Interpretation, die Österreich diesen Neutralitätserfordernissen in den Sondierungsbesprechungen geben wird, von erheblicher Bedeutung. Der Leiter des Rechtsdienstes des österreichischen Aussenministeriums, Minister Kirchschläger, hatte regelmässig an unseren früheren Beamtenbesprechungen teilgenommen und ist mit den Vorarbeiten bestens vertraut. Trotzdem ist die Gefahr natürlich naheliegend, dass die österreichischen Gesprächspartner unter innenpolitischem Druck die praktischen Auswirkungen dieser Erfordernisse minimisieren werden, wobei ihnen dies bei den handelspolitischen und kriegswirtschaftlichen Vorbehalten durch die Tatsache erleichtert werden wird, dass der Welthandel für Österreich weniger ins Gewicht fällt als für die Schweiz, der österreichische Zoll etwa auf dem gleichen Niveau liegt wie der Aussenzoll der EWG und die Verhältnisse der österreichischen Landwirtschaft günstiger sind als der schweizerischen. Die neutralitätspolitische Stellungnahme Österreichs sollte daher die unsrige nicht präjudizieren dürfen. Wir haben denn auch keine weiteren Konsultationen mit Österreich gesucht, die den falschen Eindruck hätten erwecken können, als ob die von Österreich in Brüssel allenfalls abgegebenen Erklärungen mit uns koordiniert worden seien. Aus der gleichen Überlegung haben wir auch darauf verzichtet, dem schwedischen Beispiel zu folgen und einen Beamten nach Brüssel zu entsenden, der während der neutralitätspolitischen Sondierungsgespräche Österreichs in Brüssel anwesend wäre, ohne die Möglichkeit zu haben, an diesen Gesprächen persönlich teilnehmen und eine eigene Meinung vertreten zu können.
Angesichts der erwähnten Zusammenhänge sind für uns alle Informationen, die eine Beurteilung der im Falle Österreich zu erwartenden weiteren Entwicklungen erleichtern, ausserordentlich wertvoll.
Interessant und wichtig sind in diesem Zusammenhang die hinsichtlich einer Assoziation Österreichs bei den sechs EWG-Staaten im Spiele stehenden wirtschaftlichen und politischen Interessen. In dieser Hinsicht verfügen wir zur Zeit nur über lückenhafte Informationen und wir wären Ihnen somit dankbar, wenn Sie uns behilflich sein könnten, diese nutzbringend zu ergänzen.
Mit Bezug auf die wirtschaftliche Sachlage stellt sich vor allem die Frage, was für Interessen in den einzelnen EWG-Ländern durch eine Assoziierung Österreichs allenfalls tangiert würden. Inwiefern bestehen bei den Sechs wirtschaftlich begründete Widerstände gegen einen Anschluss Österreichs an die Wirtschaftsgemeinschaft und wie weit könnten sich dieselben als wichtiges Hindernis gegen eine Assoziierung auswirken? Welches sind im konkreten Fall die nationalen Produktionszweige im EWG-Raum, welche durch eine Zollunion mit Österreich in Mitleidenschaft gezogen würden?
Hinsichtlich des politischen Aspekts handelt es sich um die politischen Ziele, die bei den einzelnen EWG-Partnern deren Stellungnahme zum Fall Österreich beeinflussen dürften. Einem Bericht unserer Mission in Brüssel3 entnahmen wir z. B. folgendes: Die Deutsche Bundesrepublik, welche früher die These des jeder Präzedenzwirkung entbehrenden «Spezialfalls Österreich» verfocht, scheint sich nunmehr der holländischen Konzeption angeschlossen zu haben, wonach durch die Assoziierung Österreichs ein Präjudiz geschaffen wird. Für die Holländer sind offenbar gerade die präjudizierenden Auswirkungen der springende Punkt, bzw. der Aspekt, der sie bewegen könnte, ein Abkommen mit Österreich im Hinblick auf dessen wegebnenden Effekt für andere Assoziations- und Beitritts-Gesuche zu genehmigen. Es stellt sich somit die Frage, ob die Präjudiz-These Schule macht und ob z. B. auch Italien (nebst Belgien/Luxemburg) bei der Aussicht auf eine endgültige Sprengung des kleineuropäischen Rahmens wirtschaftliche und anderweitige politische Bedenken zurückstellen würde. In diesem Falle könnten die Franzosen wieder in eine ähnlich isolierte Situation gedrängt werden wie anlässlich des Abbruchs der England-Verhandlungen im Januar d. J. Frankreich wird sicher mit allen Mitteln zu verhindern suchen, dass durch ein Abkommen mit Österreich das allgemeine Problem der Ausweitung der Wirtschaftsgemeinschaft erneut gestellt wird. Mitteilungen unserer Botschaft in Paris4 war im Übrigen zu entnehmen, dass das Studium der wirtschaftlichen Aspekte einer österreichischen Assoziierung von den französischen Behörden zurzeit nicht weitergeführt wird. Kann man daraus folgern, dass Paris bereits eine grundsätzliche Entscheidung gegen eine Assoziation Österreichs getroffen hat oder haben die Franzosen Grund zur Annahme, dass hinsichtlich der Behandlung des österreichischen Assoziationsgesuchs in Brüssel vorderhand ohnehin keine Fortschritte zu erwarten sind? In diesem Zusammenhang war es interessant zu vernehmen, dass anlässlich einer Informationstagung über das EWG-Kartellrecht, der Sprecher der EWG erklärte, dass man den Österreichern vermutlich vorschlagen werde, sich mit einem nichtpräferenziellen, GATT-konformen Abkommen zu begnügen und sich vorläufig darauf zu konzentrieren, die österreichische Wirtschaft durch Angleichung an die EWG-Verhältnisse integrationsreif zu machen. Der EWG-Sprecher versuchte indirekt darzulegen, dass, ungeachtet der Beispiele Griechenland und Türkei, die anders gelagert wären, eine Assoziation wegen objektiver Schwierigkeiten nicht möglich sein dürfte. Wie Sie sehen, gelangen wir im politischen Bereich nur zu verschiedenen mit Fragezeichen versehenen Spekulationen. Wir sind Ihnen deshalb für die Mitteilung diesbezüglicher Beobachtungen in jedem Falle äusserst dankbar.
Während die Aussichten auf eine gemeinsame Stellungnahme der Sechs zum österreichischen Assoziationsgesuch durch das Spiel der verschiedenen wirtschaftlichen und politischen Interessen immer noch sehr im Ungewissen gehalten werden, suchen die Österreicher den Ernst ihrer Absichten unter Beweis zu stellen. Beispielsweise soll ein von Handelsminister Bock ausgearbeitetes Siebenpunkte-Programm die österreichische Wirtschaft durch Liberalisierungen, Ausbau des Kapitalmarktes usw. auf die geplante Assoziierung, gleichzeitig jedoch auch auf eine mögliche Verschärfung der Diskriminierung vorbereiten. Unbeantwortet bleibt allerdings vorderhand die Frage, wie die zurzeit gegen den Konkurrenzansturm des westlichen Auslands abgeschirmten österreichischen Produzenten an dem Tage reagieren würden, an welchem sie sich den Zutritt zum Sechsermarkt durch Schleifung des ganzen protektionistischen Burgwalls erkaufen müssten.
- 1
- Schreiben: E 2804(-)1971/2/106.↩
- 2
- Es handelt sich um ein streng vertrauliches Schreiben des Integrationsbureaus an die schweizerischen Botschaften in den EWG- und EFTA-Hauptstädten sowie an die Schweizerische Mission bei den Europäischen Gemeinschaften in Brüssel, das die wichtigsten Elemente der schweizerischen Haltung gegenüber allfälligen Fragen zu einer Reaktivierung des schweizerischen Assoziationsgesuches darlegte. Für eine Kopie dieses Schreibens vgl. E 2001(E)1976/17/209.↩
- 3
- Nicht ermittelt.↩
- 4
- Nicht ermittelt.↩
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European Union (EEC–EC–EU) Austria (Politics) European Free Trade Association (EFTA) Economic relations