Fremdenpolizeiliche Behandlung von deutschen, tschechoslowakischen und italienischen Staatsangehörigen.
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Documents Diplomatiques Suisses, vol. 16, doc. 6
volume linkZürich/Locarno/Genève 1997
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Archives | Archives fédérales suisses, Berne | |
▼ ▶ Cote d'archives | CH-BAR#E4300B#1969/78#36* | |
Ancienne cote | CH-BAR E 4300(B)1969/78 6 | |
Titre du dossier | Politisch unerwünschte Ausländer aus Deutschland (101-688.11) (1945–1956) | |
Référence archives | E.005.3 |
dodis.ch/1993
Kreisschreiben des Vorstehers des Justiz- und Polizeidepartements, Ed. von Steiger, an die Polizeidirektionen der Kantone1
FREMDENPOLIZEILICHE BEHANDLUNG VON DEUTSCHEN, TSCHECHOSLOWAKISCHEN UND ITALIENISCHEN STAATSANGEHÖRIGEN
1. Am 8. Mai 19452 hat der Bundesrat beschlossen, dass er keine offizielle deutsche Reichsregierung mehr anerkenne. Er hat gleichzeitig die Schliessung der deutschen diplomatischen und konsularischen Vertretungen in der Schweiz angeordnet3. In den nächsten Tagen werden an verschiedenen Orten der Schweiz Bureaux eröffnet werden, die unter der Leitung schweizerischer Beamter und der Verantwortung des Eidg. Politischen Departementes die Interessenvertretung der deutschen Staatsangehörigen in der Schweiz übernehmen werden. Die deutschen Interessenvertretungen4 werden die notwendigen konsularischen Geschäfte erledigen namentlich Ausweispapiere ausstellen und verlängern und Unterstützungen ausrichten.
Bei dieser Sachlage können bis auf weiteres keine deutschen Ausweispapiere mehr als gültige Ausweispapiere im Sinne des Bundesgesetzes über Niederlassung und Aufenthalt der Ausländer und der dazugehörenden Vollziehungsverordnung (Art. 5, Abs. 1)5 anerkannt werden, auch dann nicht, wenn sie von den deutschen Interessenvertretungen ausgestellt werden. Demzufolge müssten heute sämtliche Niederlassungs- und Aufenthaltsbewilligungen von deutschen Staatsangehörigen als erloschen erklärt werden.
In Anbetracht der grossen Zahl der in der Schweiz ansässigen deutschen Staatsangehörigen6, die Niederlassungs- oder Aufenthaltsbewilligung besitzen, wäre eine solche Lösung praktisch sozusagen nicht durchführbar. Um sich davon zu überzeugen braucht man nur zu überlegen, welche Arbeit die Abänderung von Tausenden von Bewilligungen verursachen und welche Schwierigkeiten die Frage der Kaution bieten würde. Wir müssen übrigens auch nicht vergessen, dass wir uns in einer ausserordentlichen Lage befinden, die von der Fremdenpolizeigesetzgebung nicht vorausgesehen werden konnte und wahrscheinlich nur vorübergehend ist. Welches das künftige Regime in Deutschland auch sein mag, ist damit zu rechnen, dass die Frage der Ausweispapiere der deutschen Staatsangehörigen in nicht allzu ferner Zeit auf die eine oder andere Weise geregelt wird. Wir bitten Sie deshalb bis auf weiteres wie folgt vorzugehen.
Die deutschen Staatsangehörigen, die bisher Niederlassungsbewilligung besessen haben, werden in derselben fremdenpolizeilichen Stellung belassen. Bereits bestehende Aufenthaltsbewilligungen werden aufrecht erhalten; Verlängerungen derselben sind auch als Aufenthaltsbewilligungen zu erteilen. Neu Eingereisten werden auf Grund der verfügbaren deutschen Ausweispapiere ebenfalls Aufenthaltsbewilligungen verabfolgt.
Wenn auch die Mehrzahl der in der Schweiz ansässigen deutschen Staatsangehörigen sich immer anständig benommen haben, so gibt es darunter doch solche, deren Verhalten zu Klagen Anlass gab oder welche durch eine unzulässige politische Tätigkeit oder Haltung aufgefallen sind und deshalb von unserem Land entfernt werden müssen7. In solchen Fällen und wenn eine Ausweisung gemäss Art. 70 der Bundesverfassung oder Art. 10 des Bundesgesetzes vom 26. März 1931 nicht unbegründet ist, kann die Niederlassungsbezw. Aufenthaltsbewilligung dieser unerwünschten Elemente in Anwendung des Art. 9 des erwähnten Gesetzes in Verbindung mit Art. 5, Abs. 1 VVO als erloschen erklärt werden. Die kantonale Behörde wird dann eine Wegweisung aus dem Kanton verfügen und der Eidg. Fremdenpolizei Antrag auf Ausdehnung auf das ganze Gebiet der Schweiz stellen.
Wir bitten aber die Kantone, dieses Verfahren nur dann anzuwenden, wenn es sich um deutsche Staatsangehörige handelt, die aus ernsthaften und bestimmten Gründen als wirklich unerwünscht befunden werden. Die Anträge auf Ausdehnung einer Wegweisung sollen immer eingehende Angaben über die Gründe enthalten, die den Kanton veranlasst haben, den betreffenden Entscheid zu treffen.
2. Tschechoslowakische Pässe, die von der tschechoslowakischen Gesandtschaft in der Schweiz ausgestellt, verlängert oder visiert werden, werden als gültige Ausweispapiere im Sinne der fremdenpolizeilichen Vorschriften anerkannt. Dagegen können deutsche Pässe für Angehörige des Protektorates Böhmen und Mähren, sowie slowakische Pässe nicht mehr anerkannt werden; den Inhabern von solchen Pässen ist deshalb zu empfehlen, sich um ordentliche tschechoslowakische Pässe zu bewerben. Wer sich keinen solchen Pass beschaffen will oder kann, darf nur noch Toleranzbewilligung erhalten.
3. Mit Kreischreiben vom 27. März 19458 teilten wir Ihnen mit, dass aus bestimmten Zweckmässigkeitsgründen bis auf weiteres die von der neofaschistischen Handelsdelegation in Zürich ausgestellten und verlängerten Pässe als gültige Ausweisschriften anerkannt würden. Die tatsächlichen Voraussetzungen, die Anlass zu dieser Regelung gaben, sind inzwischen weggefallen. Somit können heute die von der neofaschistischen Handelsdelegation ausgestellten oder verlängerten Ausweispapiere nicht mehr als gültig anerkannt werden. Den Inhabern dieser Papiere ist deshalb zu empfehlen, sich bei den ordentlichen italienischen Vertretungen in der Schweiz um italienische Pässe zu bewerben. Diejenigen, die das ablehnen oder deren Bemühungen erfolglos sind, dürfen nur noch Toleranzbewilligung erhalten, gegebenenfalls unter Ansetzung einer Ausreisefrist.
Wir wären Ihnen dankbar, wenn Sie die Fremdpolizeibehörde Ihres Kantons anweisen wollten, bei der Behandlung von Fällen von deutschen, tschechoslowakischen und italienischen Staatsangehörigen im Sinne der Ausführungen dieses Kreisschreibens zu verfahren.
- 1
- (Kopie): E 4300 (B) 1969/786.↩
- 2
- Siehe DDS, Bd. 15, Dok. 441, dodis.ch/48045.↩
- 3
- Zu den Ausweisungen von deutschem Gesandtschafts- und Konsulatspersonal siehe das Pressecommuniqué vom 24. Mai 1945 in der Beilage des BR-Prot. Nr. 1115 vom 24. Mai 1945, E 1004.1 1/457.↩
- 4
- Vgl. DDS, Bd. 16, Dok. 3, dodis.ch/320 sowie das Aide-Mémoire vom 30. Juli 1945, dodis.ch/2082.↩
- 5
- Zum Bundesgesetz und zur Vollziehungsverordnung vom 26. März 1931 bzw. 5. Mai 1933 siehe AS, 1933, Bd. 49, S. 279–288, 289–304.↩
- 6
- Die deutsche Kolonie in der Schweiz umfasste knapp 24’000 Personen. Vgl. BBl, 1946, I, S. 48–49.↩
- 7
- Zu den antidemokratischen Tätigkeiten von Deutschen in der Schweiz vgl. Bericht des Bundesrates an die Bundesversammlung über die antidemokratische Tätigkeit von Schweizern und Ausländern im Zusammenhang mit dem Kriegsgeschehen von 1939–1945 (Motion Boerlin), Erster Teil, vom 28. Dezember 1945, BBl, 1946, I, S. 1–123. Zur Ausweisung von Nationalsozialisten vgl. Ergänzungen zum Berichte des Bundesrates an die Bundesversammlung vom 28. Dezember 1945 und 17. Mai 1946, I. und II. Teil vom 25. Juli 1946, BBl, 1946, II, S. 1085–1187 und E 4260 (C) 1974/34/72.↩
- 8
- Siehe DDS, Bd. 15, Dok. 401, dodis.ch/48005 und E 4300 (B) 2/7.↩
Liens avec d'autres documents
http://dodis.ch/1993 | est cité dans | http://dodis.ch/2082 |
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