Überblick und Einschätzung des ehemaligen Schweizer Gesandten in Berlin über die Gefahrenmomente in den deutsch-schweizerischen Beziehungen zwischen 1940 und 1945.
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Documenti Diplomatici Svizzeri, vol. 16, doc. 16
volume linkZürich/Locarno/Genève 1997
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Archivio | Archivio federale svizzero, Berna | |
▼ ▶ Segnatura | CH-BAR#E5795#1000/951#202* | |
Vecchia segnatura | CH-BAR E 5795(-)1000/951 28 | |
Titolo dossier | Bericht des Generals über den Aktivdienst (1939–1945) | |
Riferimento archivio | 1.D.01.f.2 |
dodis.ch/167
Der ehemalige schweizerische Minister in Berlin, H. Frölicher, an den Vorsteher des Politischen Departements, M. Petitpierre1
DIE GEFAHRENMOMENTE IN DEN DEUTSCH-SCHWEIZERISCHEN BEZIEHUNGEN2
1.
Am Auffahrtstage 1940 (2. Mai)3 wurde ich «sofort» zum Aussenminister zitiert. Nach kurzer Begrüssung sagte Ribbentrop, dass es eine «sehr ernste Angelegenheit» sei, weshalb er mich zu sich berufen habe. Er spreche im Auftrage Hitlers. Der Bundesrat habe einen neuen polnischen Gesandten akkreditiert, die Reichsregierung könne dies nicht hinnehmen, nachdem Polen nicht mehr existiere. Ferner erhob der Aussenminister wegen der Schreibweise der schweizerischen Presse schärfste Vorwürfe; der Führer sei deshalb gestern ganz besonders aufgebracht gewesen.
Ich suchte zu beruhigen. Der Bundesrat, der offenbar noch keinen definitiven Beschluss über die Ernennung eines neuen polnischen Gesandten gefasst hatte, beschränkte sich auf die Zulassung eines Geschäftsträgers. Wegen der Presse fuhr ich, wie ich dem Aussenminister in Aussicht gestellt hatte, nach Bern, wo ich eintraf als der Feldzug gegen Frankreich begonnen hatte.
Ich hatte den Eindruck, dass vor dem französischen Feldzug die Neutralität der Schweiz an massgebender Stelle diskutiert worden war, dass man sich aber darauf beschränkte, uns vorderhand in Ruhe zu lassen und uns nur eine Warnung und eine Missbilligung auszusprechen.
Die Tatsache, dass ich bei meiner Fahrt in die Schweiz und zurück über Ulm-Lindau keine Truppenbewegungen mit Richtung Schweiz feststellte, bestärkte mich in der Annahme, dass beschlossen worden war, während des Feldzuges gegen Frankreich kein Unternehmen Schweiz zu starten. Schon einige Monate früher hatte mir ein mir befreundeter, an wichtiger Stelle arbeitender General versichert, dass die Neutralität der Schweiz respektiert werde. Aber er fügte bei «Die weltgeschichtlichen Entscheidungen sind immer in Flandern gefallen.»
2.
Die oft vertretene Auffassung, dass die Schweiz angegriffen worden wäre, wenn der Durchbruch durch die verlängerte Maginot-Linie bei Sedan nicht gelungen wäre, halte ich nicht für zutreffend. Das erste strategische Ziel der deutschen Heeresleitung war die Kanalküste. Ein Versuch, durch die Schweiz und über den Jura zu marschieren, um in Frankreich einzufallen, hätte den vorläufigen Verzicht auf die Erreichung der Kanalküste bedeutet. Ferner aber ist nicht einzusehen, wieso die Umfassung durch das Defilee der schweizerischen Hochebene und über die Jurabarriere Aussicht auf Erfolg hätte haben können, wenn es schon nicht gelang, im offenen Belgien und Frankreich durchzubrechen. Schliesslich hätte voraussichtlich auch Italien4, das erst beim unerwarteten, raschen Zusammenbruch Frankreichs sich zum Kriegseintritt entschloss, einer Verletzung der schweizerischen Neutralität Schwierigkeiten gemacht.
Eine gewisse Gefahr war jedoch meines Erachtens vorhanden, als die erste Phase des französischen Feldzugs mit der Besetzung von Holland und Belgien und der Kanalküste bis Abbeville abgeschlossen war und Hitler anfangs Juni 1940 die Eliminierung der französischen Wehrmacht in Aussicht nahm, statt den Sprung über den Kanal zu wagen.
Auch auf meiner Gesandtschaft war man damals beunruhigt wegen der deutschen Heeresgruppe in Südbaden und atmete erst auf, als sie am 14. Juni bei Freiburg i. Br. den Rhein überschritt. Aber auch in dieser Phase war der Operationsraum zwischen Kanal und Lothringen gross genug, um auf eine Umfassung durch die Schweiz verzichten zu können. Die Heerestruppe in Südbaden war offenbar nicht für einen Durchbruch durch die Schweiz zusammengestellt worden, auch wenn sie bei ihrer Aufstellung den Nebenzweck erfüllen konnte, durch Beunruhigung der Schweiz die französische Heeresleitung zu veranlassen, ihre rechte Flanke nicht vollständig zu entblössen.
Kritischer war es meines Erachtens jedoch dann, als schon nach wenigen Tagen dieser zweiten Phase des französischen Feldzuges die französische Abwehrfront überall zusammenbrach und mit einer raschen Beendigung des Feldzuges in Frankreich gerechnet werden musste. Dazu kam, dass Mussolini sich zum Kriegseintritt entschloss, um beim Verteilen der Beute ja nicht zu spät zu kommen. Die Schweiz mit ihrem wesentlichen Verteidigungsdispositiv an der Nordgrenze, war isoliert, das Réduit war weder bezogen, noch vorbereitet, und bei der Mentalität der beiden Diktatoren, von Gelegenheiten zu profitieren, war mit Überraschungen zu rechnen.
Diese militärische und politische Gesamtlage muss man im Auge behalten bei der Beurteilung der Zwischenfälle, die sich wegen der Überfliegung unseres Luftraumes durch deutsche Flugzeuge ereigneten und die wohl zur gefährlichsten Spannung während des Krieges führten.
Am 1., 2. und 4. Juni hatte die schweizerische Luftwaffe deutsche Bomber und deutsche Jagdflugzeuge abgeschossen, die an unserer Westgrenze zwischen Basel und Genf unsere Lufthoheit nicht beobachtet hatten. Durch einen Legationsrat5 in der politischen Abteilung des Auswärtigen Amtes, der antinationalsozialistisch war und später von der Gestapo beseitigt wurde, wussten wir und konnten das auch nach Bern berichten, dass eine «äusserst scharfe» Note in Vorbereitung war. Kaum hatte die Gesandtschaft am 3. Juni6 Bern von Vorstehendem verständigt, als schon wieder am folgenden Tage weitere deutsche Flugzeuge unter ähnlichen Umständen abgeschossen wurden. In ihrer Note vom 5. Juni7 behauptete die Reichsregierung, dass Abschüsse über französischem Gebiet erfolgt seien – zwei deutsche abgeschossene Flugzeuge wurden auf französischem Gebiet aufgefunden – und verlangte Entschuldigung, Bestrafung der Schuldigen und Ersatz des Schadens. – Am 8. Juni wurde die schweizerische Antwortnote8, die den deutscherseits behaupteten Tatbestand bestritt und die Bereitschaft erklärt, den Fall gemäss dem deutschschweizerischen Schieds- und Vergleichsvertrag zum Austrag zu bringen, der Deutschen Gesandtschaft in Bern übergeben. Am gleichen Tage fanden wieder Luftkämpfe statt, die zu Verlusten auf beiden Seiten führten. Am 7. Juni hatte auch die zweite Phase des Feldzuges gegen Frankreich begonnen. Mit einer gewissen Erleichterung konnte ich am 12. Juni9 auf Grund einer Information meines Gewährsmannes im Auswärtigen Amt nach Bern telegraphieren, dass zwar eine weitere scharfe Note in Vorbereitung sei, dass aber eine wesentliche Gefahr nicht mehr bestehe. Am 19. Juni10 wurde in Bern diese zweite deutsche Note, die sich auch auf die Vorfälle vom 8. Juni bezog, Herrn Bundesrat Pilet übergeben. Die Reichsregierung hielt an ihrer Sachdarstellung fest, lehnte jede weitere Diskussion über den Tatbestand ab, wiederholte ihre früheren Petita und drohte mit «andern Mitteln.»
Unterdessen war der französische Feldzug zu Ende gegangen. Die deutschen Truppen blieben an der französisch-schweizerischen Grenze stehen. Um die Erledigung der Zwischenfälle zu erleichtern, liess man die wenigen internierten deutschen Militärpersonen nach Deutschland zurückkehren11. Nach dem 8. Juni erging auch auf Veranlassung des Bundesrates die Weisung an die schweizerische Luftwaffe12, in der Grenzzone weitere Luftkämpfe zu vermeiden. Am 1. Juli wurde die schweizerische Antwortnote13 der deutschen Gesandtschaft in Bern übergeben, wobei die Möglichkeit von einzelnen ungewollten Überfliegungen der Grenze eingeräumt und die Bereitwilligkeit ausgesprochen wurde, für solche Fälle, sofern sie sich als richtig ergeben sollten, eine Entschuldigung auszusprechen und sogar gegebenenfalls Schadenersatz zu leisten. Mit dieser Note war der Zwischenfall erledigt und am 16. Juli14 teilte mir Staatssekretär von Weizsäcker mit, dass der Streit beigelegt sei.
Wie das Wetterleuchten eines abziehenden Gewitters wirkte die Kenntnisnahme der Tatsache, dass deutscherseits eine grössere Anzahl von Saboteuren15 in die Schweiz geschickt wurde, die den Befehl hatten, am 16. Juni an schweizerischen Flugplätzen Sabotageakte zu begehen. Dank der Wachsamkeit unserer Polizei und der Armee wurden alle diese Missetäter geschnappt, und die Reichsregierung hatte immerhin nicht die Schamlosigkeit, sich offiziell für diese Leute einzusetzen, die auch heute noch im Gefängnis sitzen.
Einen wesentlichen Beitrag zur Entspannung der beidseitigen Beziehungen bildete die Wirtschaftsvereinbarung vom August 194016. Die schon damals auch aus politischen Gründen zur Verfügung gestellten Kredite haben sicherlich viel dazu beigetragen, dass unser Land damals nicht überfallen und unter Zwang in die deutsche Kriegsmaschine eingespannt wurde. Auch wenn diese Clearingkredite schon wegen der wirtschaftlichen Zwangslage (Eisen und Kohle) zur Verfügung gestellt werden mussten, so haben sie sich für die Sicherheit unseres Landes wohl entscheidend ausgewirkt.
Nach dem Abschluss des französischen Feldzuges war der frühere Reichsbankpräsident Schacht bei mir und bemerkte: «Nicht wahr, ich habe Ihnen immer gesagt, dass die Neutralität der Schweiz respektiert werde.» Als ich dies bestätigte, aber bemerkte, dass wir leider noch nicht am Ende des Krieges seien und die Frage zur Erörterung stellte, ob auch bei einem Endsieg unser Land heil bleiben werde, antwortete er: «Ja, wenn es dazu kommen sollte, so sind wir alle verloren.»
3.
Auch in der Zeit vom August 1940 bis gegen Ende des Jahres war noch nicht jede Gefahr eines deutschen Überfalles gebannt. Offenbar beabsichtigte Hitler, nach der Niederwerfung Frankreichs die Landung in England vorzubereiten. Im August begannen die Luftangriffe, die bis in den Oktober hinein fortgesetzt wurden, ohne aber ein wesentliches Resultat zu erzielen. Die englische Luftwaffe konnte nicht mehr ausgeschaltet werden.
Wenn auch Hitler wohl schon damals entschlossen war, Russland anzugreifen – ich hatte eine erste Information diesbezüglich schon im August 1940 erhalten –, so stand ihm beinahe während eines Jahres eine beliebige Zahl von Divisionen zur Verfügung, um gewisse «Bereinigungen» vorzunehmen. Es war nicht ausgeschlossen, dass er versuchen könnte, die Festung Europa durch die Besetzung der schweizerischen Alpenpässe und der Alpenverbindungen zu verstärken. Auch war es offenkundig, dass vielen Nationalsozialisten die demokratische Insel im Zentrum Europas einen Anstoss bedeutete.
Im Oktober 1940 erhielt ich denn auch von vielen Seiten höchst beunruhigende Informationen17. Dazu kam, dass unser Land in der deutschen Presse fast täglich kritisiert und angegriffen wurde. Es war auch die Zeit, wo sich die Schweizer Nazis in der Schweiz und in Deutschland besonders bemerkbar machten, wo Bundesrat Pilet einige Frontisten empfing18, die sich dann nachher höchst zweideutig benahmen, und wo später einer der Besucher, in den Schweizerkolonien Deutschlands grosse Massenkundgebungen veranstalten wollte, die aber dank der heimattreuen Haltung der Kolonien nicht zustande kamen. Es war die Zeit, wo wohlmeinende Leute einen Besuch von alt Bundesrat Schulthess19 bei Hitler in Vorschlag brachten, der dann glücklicherweise unterblieb, weil der Bundesrat dagegen war, eine Auffassung, die übrigens auch von Staatssekretär von Weizsäcker geteilt wurde, der mich im Vertrauen vor gefährlichen Initiativen warnte. Dazu kam, dass Deutschland weitere namhafte Kredite verlangte, deren Einräumung schweizerischerseits begreiflicherweise Bedenken machen musste. In dieser Zeit platzte dann auch das Parteienverbot20, das von unsern übelwollenden Gegnern sofort als gegen Deutschland gerichtet hingestellt wurde, und die früher erwähnten Saboteure wurden zu langen Zuchthausstrafen verurteilt. Es war – und dies zeigte sich im Parlament bei Behandlung des Frontistenbesuches – als ob man mit Rücksicht auf das schweizerische Unabhängigkeits- und Gerechtigkeitsgefühl bis zum äussersten Prozent des Spannungskoeffizienten gehen wollte, ohne Rücksicht darauf, dass Hitler für unser Land in dieser Zeit eine grosse Gefahr bedeutete und diese Gefahr mehr wog als die Unannehmlichkeiten, die mit einer Aussenpolitik der «Vorsicht» verbunden waren.
Trotz dieser Sachlage hatten unsere Massnahmen keine ernste Folge. Bei einer Besprechung im Spätherbst 1940 mit dem Chef des Ministeramtes im Luftfahrtministerium General Bodenschatz, [der] zugleich Verbindungsmann von Goering zu Hitler war, einer Besprechung, bei der auch Generalkonsul Huber aus Prag anwesend war, wurden die deutsch-schweizerischen Beziehungen eingehend erörtert. Bodenschatz sagte, dass man in den massgebenden Kreisen nicht verstehe, wieso ein demokratischer Staat eine Partei verbieten könne, die mit legalen Mitteln eine Verfassungsänderung anstrebe. Ich antwortete, dass auch die kommunistische Partei verboten worden sei, und dass man in Kriegszeiten Gescheiteres zu tun habe als über das Grundsätzliche der Verfassung zu streiten; in normalen Zeiten könne man diesbezüglich wieder larger sein. General Bodenschatz zeigte hiefür Verständnis und fügte bei, und dies ist in diesem Zusammenhang wichtig, alles dies habe heute keine sehr grosse Bedeutung. Es sei jetzt etwas anderes in Vorbereitung. Das könne er hier jedoch nicht sagen. Nach einer Weile, die Unterredung fand im bekannten Restaurant Horcher statt, bat er Generalkonsul Huber in den Gang hinaus und Huber konnte mir nachher melden: «Russland».
Die Schweiz war also nicht mehr wichtig. Die extremen deutschen Nazis trösteten sich damit, dass die Schweiz «nach dem Endsieg dran komme», was der Gauleiter von Sachsen, Mutschmann, zu dessen Rechten ich an einem Essen an der Leipziger Messe sass, mir auch unverhüllt in Aussicht stellte. Kleinere Grössen nannten die Schweiz den Wartegau und andere trösteten sich damit, dass die Schweiz sechs Tage für Deutschland arbeite, auch wenn sie am Sonntag für den Sieg der Alliierten bete.
Vom Dezember 1940 an hatte ich den Eindruck, dass eine akute Gefahr für die Schweiz nicht mehr bestand. Anfangs 1941 kam auch Schaffner zu mir und fragte mich, ob ich mich nicht für eine Aktion zur Verbesserung der deutsch-schweizerischen Beziehungen zur Verfügung stelle. Als ich das unter dem Hinweis verneinte, dass wir uns in Kriegszeiten mit korrekten Beziehungen begnügen müssten, antwortete er mir fast etwas drohend, meine Antwort verwundere ihn nicht, aber auch er werde sich in Zunkunft nicht mehr mit Politik befassen, ein Versprechen, das er allerdings nur teilweise befolgte. Eine Reise schweizerischer Journalisten nach Deutschland im Frühjahr 1941, kurz vor dem Feldzug nach Jugoslawien, trug zur Entspannung bei trotz einer etwas drohenden Ansprache Goebbels, der verhüllt die Kollaboration von ganz Europa forderte für einen gewissen Fall, womit er offensichtlich den Krieg gegen Russland meinte.
4.
Eine Gefahr für unser Land hätte jedoch entstehen müssen, wenn der Feldzug gegen Russland zu einem raschen Erfolg geführt hätte. Wir haben es sicherlich dem erfolgreichen russischen Winterfeldzug 1941/42 zu verdanken und dem Widerstand der russischen Armee im Sommer 1942, dass die Frage Schweiz nicht schon vor dem Endsieg akut wurde. Wäre Russland schon im Jahre 1941 zusammengebrochen oder in den Ural zurückgeworfen worden, so wäre zwar auch der Endsieg doch nicht wahrscheinlich gewesen, aber Hitler hätte wohl in die Festung Europa keine demokratischen Neutralen mehr zugelassen. Diese Tatsache wird man, wenn eine Normalisierung der schweizerisch-russischen Beziehungen im Bereiche der Möglichkeit liegt, im Auge behalten müssen und ihr im richtigen Zeitpunkte auch Ausdruck geben dürfen. Die Entsendung von vier Ärztemissionen nach Russland21, die von mir angeregt wurde, wirkte den Bestrebungen übelwollender Kreise entgegen, die es auch jetzt noch gerne gesehen hätten, wenn die Schweiz überfallen worden wäre.
Mit der misslungenen Sommeroffensive 1942, die mit dem englischen Sieg in El Alamein zusammenfiel, war der Krieg entschieden und damit die wesentlichen Gefahrenmomente für unser Land beseitigt. Es war im Oktober, wo ich mich entschliessen konnte, über meine Erlebnisse und Eindrücke ein Tagebuch zu beginnen.
Im Frühjahr 1943, als Wirtschaftsverhandlungen22 liefen und wir dem deutschen Begehren nach weitern Krediten Widerstand entgegensetzten, erhielt auch ich eine Information, derzufolge deutscherseits das Thema Schweiz wieder in Erwägung sei. Damals hatten die Angloamerikaner Afrika gesäubert und waren im Begriff, nach Sizilien überzusetzen. Herr Bundesrat Pilet, der mich auf diese Gerüchte hinwies, teilte meine Meinung, dass es sich hier wohl mehr um ein handelspolitisches Bangemachen handle als eine ernstliche Gefahr. General Schellenberg, mit dem auch ich in den Monaten Februar und März dieses Jahres einen engeren politischen Kontakt hatte23, berief sich auch mir gegenüber darauf, dass er damals sich ein Verdienst um die Schweiz erworben hätte. Als er von den Absichten gehört habe, die Schweiz anzugreifen, sei er in die Schweiz gereist und die Erklärungen des Generals, der ihn empfangen habe24 und der ihm versicherte, dass die schweizerische Armee auch gegenüber den Angloamerikanern die Neutralität verteidigen werde, habe ihm gestattet, diesen Plänen mit Erfolg entgegenzutreten. Ich hatte aber bei diesen Äusserungen Schellenbergs den Eindruck, dass auch er nicht mit einer ernstlichen Gefahr rechnete und dass es den Herren vom deutschen Sicherheitsdienst mehr darum ging, sich in der Schweiz für alle Fälle eine gute Note zu machen. Unsere Alpenstellung konnte damals nicht mehr überrumpelt werden, und die deutschen Divisionen waren überall voll beschäftigt und die englisch-amerikanische Luftwaffe wäre in der Lage gewesen, ein entscheidendes Wort beim Kampf um die Alpenpässe mitzusprechen.
- 1
- Bericht (Kopie): E 5795/202.↩
- 2
- Handschriftliche Bemerkungen von H. GuisanA comparer avec rapport Daniel sur même sujet! und Pris 2 copies de ce rapport qui me fut confié par Daniel. Vgl. die nicht abgedruckte Kopie des Berichtes von Major C. DanielNotes sommaires sur les dangers militaires (1939-1945). Zu den Gefahrenmomenten während des Zweiten Weltkriegs siehe auch den Bericht von alt Bundesrat M. Pilet-Golaz vom September 1945 Aperçu destiné à Monsieur le Conseiller fédéral Max Petitpierre, Chef du Département politique, sur les dangers auxquels la Suisse fut exposée au cours de la guerre mondiale 1939-1945, siehe E 2809/1/4.↩
- 3
- Zu diesem Gespräch mit J. von Ribbentrop vgl. DDS, Bd. 13, Dok. 271, dodis.ch/47028 mit Annex. Was die Rolle der damaligen Presse anbelangt, vgl. DDS, Bd. 13, Thematisches Verzeichnis: VI. Affaires de presse, censure, propagande et opinion publique.↩
- 4
- Zur Einschätzung des politischen Handlungsspielraums, den Italien im Juni 1940 besass, und zur Frage nach den Folgen, die sich nach dieser Einschätzung für die Schweiz ergeben könnten, vgl. DDS, Bd. 13, Dok. 297, dodis.ch/47054.↩
- 5
- Es handelt sich vermutlich um Legationsrat Th. Auer, Leiter der Abteilung Westeuropa im deutschen Auswärtigen Amt.↩
- 6
- Telegramm, vgl. E 2001 (E) 1967/113/90.↩
- 7
- Vgl. E 2001 (E) 1967/113/83.↩
- 8
- Vgl. DDS, Bd. 13, Dok. 300, dodis.ch/47057 Annex.↩
- 9
- Im erwähnten Telegramm schrieb Frölicher, Weizsäcker sagte mir, dass bezüglich Replik Flieger-Zwischenfälle noch nichts entschieden, weil Aussenminister noch nicht Zeit hatte, mit Frage zu befassen.[…]Habe Eindruck, dass keine Weiterungen zu befürchten sind, sofern neue Zwischenfälle vermieden werden. Vgl. E 2001 (E) 1967/113/90.↩
- 10
- Für den genauen Wortlaut dieser Note, die der deutschen Gesandtschaft in Bern aus Berlin telephonisch diktiert wurde, vgl. E 2001 (E) 1967/113/83.↩
- 11
- Vgl. DDS, Bd. 13, Dok. 320, dodis.ch/47077.↩
- 12
- Vgl. DDS, Bd. 13, Dok. 300, dodis.ch/47057, Anm. 2. Siehe auch E 27/14192/3 und E 2001 (E) 1967/113/ 83.↩
- 13
- Vgl. DDS, Bd. 13, Dok. 325, dodis.ch/47082, Annex.↩
- 14
- Vgl. dazu den politischen Bericht vom 17. Juli 1940, DDS, Bd. 13, Dok. 344, dodis.ch/47101.↩
- 15
- Zu den erwähnten deutschen Sabotageabsichten vgl. DDS, Bd. 13, Dok. 398, dodis.ch/47155 und E 2001 (E) 1967/113/90.↩
- 16
- Zu den Ergebnissen dieser Verhandlungen vgl. DDS, Bd. 13, Dok. 363, dodis.ch/47120. Für eine vollständige Fassung der Vereinbarung vgl. K I/940.↩
- 18
- Vgl. DDS, Bd. 13, Dok. 381, dodis.ch/47138.↩
- 19
- Zur nicht stattgefundenen Mission von alt Bundesrat E. Schulthess vgl. DDS, Bd. 13, Dok. 406, dodis.ch/47163 mit Annex und Nr. 410.↩
- 20
- Vgl. DDS, Bd. 13, Dok. 415, dodis.ch/47172.↩
- 21
- Vgl. DDS, Bd. 14, Thematisches Verzeichnis: 9. Missions médicales sur le front de l’Est.↩
- 23
- Vgl. DDS, Bd. 14, Dok. 260, dodis.ch/47446, Dok. 318, dodis.ch/47504, Dok. 334, dodis.ch/47520, Dok. 382, dodis.ch/47568, Dok. 392, dodis.ch/47578.↩
- 24
- Vgl. DDS, Bd. 14, Dok. 334, dodis.ch/47520.↩
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Politica militare Reame Tedesco (Generale)